Branchen

Kausalanalysen zeigen mindestlohnbedingte Veränderungen im Beschäftigungsumfang von einzelnen Branchen. Mindestlohnbedingte Zuwächse der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gab es in der Kunst-, Unterhaltungs- und Erholungsbranche. Mindestlohnbedingte Rückgänge der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung waren unter anderem im verarbeitenden Gewerbe und im Bereich „Bergbau“, „Energie“, „Wasserversorgung“ und „Entsorgungswirtschaft“ zu verzeichnen. Bei der geringfügigen Beschäftigung kam es vor allem in den vier Branchen „Verkehr und Lagerei“, „Land- und Forstwirtschaft und Fischerei“, „Erziehung und Unterricht“ sowie „Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“ zu mindestlohnbedingten Rückgängen.

In einer von der Mindestlohnkommission beauftragten qualitativen Studie aus dem Jahr 2022 standen die Arbeits- und Lebensbedingungen von Beschäftigten in der Saisonarbeit in Landwirtschaft und Gastgewerbe im Fokus (Huschik et al. 2022). Saisonarbeit ist in beiden Sektoren traditionell von großer Bedeutung, zudem sind beide in besonderem Maß vom Mindestlohn betroffen. Das Mindestlohngesetz habe demnach sowohl aus Sicht der Betriebsleiterinnen und -leiter als auch aus der der Saisonbeschäftigten deutliche Auswirkungen auf die Arbeitszeiten gehabt, da sich mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns die Dokumentationspflicht verschärft hat. Zuvor sei ein volatiles Arbeitsaufkommen mit flexibler Arbeitszeitgestaltung kompensiert worden. Durch die Dokumentationspflicht seien gesetzliche Höchstarbeitszeiten stärker in den Fokus gerückt und die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben grundsätzlich gestiegen. Dies sei in der Realität des Arbeitsalltags eine erhebliche Herausforderung. So könne beispielsweise pflückreifes Obst naturgemäß nur in sehr kurzen Zeitfenstern geerntet werden. Eine schlichte Aufstockung der Zahl der Arbeitskräfte sei zudem für spontane witterungsbedingte Spitzenzeiten kaum möglich, da die Saisonkräfte in der Regel aus dem Ausland kämen. Die Saisonbeschäftigten ihrerseits würden die trotz der gestiegenen Bruttostundenlöhne in den letzten Jahren faktisch geringeren Verdienstmöglichkeiten durch die Höchstarbeitszeiten beklagen.

Qualitative Studien in Branchen, in denen der Mindestlohn eine hohe Relevanz hat, haben verschiedene Umgehungspraktiken identifiziert. Dazu zählen insbesondere die fehlerhafte Erfassung von Arbeitszeiten, etwa durch die Nichtdokumentation geleisteter Stunden, das Einrechnen nicht gewährter Pausen oder die fehlende Vergütung von Rüstzeiten sowie Vor- und Nacharbeiten. Auch unrealistisch hohe Leistungsvorgaben oder die Vereinbarung von Pauschalvergütungen werden mitunter genutzt, um die gesetzlichen Vorgaben zu umgehen.

Ähnliche Einschätzungen zu Umgehungspraktiken ergaben sich auch aus Interviews mit Beschäftigten, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und überbetrieblichen Akteuren (z. B. Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften) der Kurier-, Express- und Paketdienst-Branche (KEP-Branche), die im Auftrag der Mindestlohnkommission zu den Auswirkungen der Mindestlohnerhöhungen auf 12 Euro und 12,41 Euro in dieser Branche durchgeführt wurden (Fuchs et al. 2025). Die in den Interviews beschriebenen Umgehungspraktiken würden jedoch nur selten direkt mit den Mindestlohnerhöhungen in Verbindung gebracht. Befragte berichteten von Diskrepanzen zwischen der tatsächlichen und der vertraglich festgelegten Arbeitszeit, die in vielen Fällen zu unbezahlten Überstunden führten. Arbeiten während der Pausenzeiten oder nach Ende der Arbeitszeiterfassung würden dazu führen, dass Mehrarbeit erst gar nicht erfasst werde (ebd.: 37ff.). Auch vereinbarte Festgehälter sowie Tätigkeiten im Zusammenhang mit notwendigen Rüstzeiten sowie Vor- und Nachbereitungszeiten, die entweder gar nicht oder nicht vollständig bezahlt würden, führten zu einer Reduzierung des Stundenlohns bis hin zur Unterschreitung des Mindestlohns.

In der Kurier-, Express- und Paketdienstbranche berichten Verantwortliche in Betrieben, dass sie als Reaktion auf die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro Investitionen, z. B. in neue Fahrzeuge, zurückgestellt hätten. In den qualitativen Studien von Koch et al. (2020: 95ff) und Koch et al. (2018:99ff.), in denen Betriebsverantwortliche, Beschäftigte und Betriebsräte aus Branchen befragt wurden, in denen der gesetzliche Mindestlohn eine hohe Relevanz hatte, habe die Mehrheit der befragten Betriebe nicht in technologische Neuerungen investiert. Investitionen in technologische Veränderungen seien insbesondere von Betrieben in den produzierenden Branchen, wie insbesondere in der Landwirtschaft und in geringerem Maße in der Herstellung von Back- und Teigwaren oder in der Fleischverarbeitung, berichtet worden. Zudem hätten Betriebe vereinzelt angegeben, dass sie aufgrund des Mindestlohns in Technologie investiert hätten oder auch, dass durch die infolge der Mindestlohneinführung gestiegenen Lohnkosten keine finanziellen Mittel für Investitionen mehr zur Verfügung gestanden hätten.

In den qualitativen Studien von Koch et al. (2020: 127f.) und Koch et al. (2018: 108f.) wird von Fällen berichtet, in denen sich seit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns der Preiswettbewerb vermindert habe und die Wettbewerbsbedingungen transparenter geworden seien. „Extremes Lohndumping“ sei durch den Mindestlohn nicht mehr möglich und „schwarze Schafe“ (ebd.) seien infolge der Mindestlohneinführung aus dem Markt ausgeschieden. Allerdings stellen Koch et al. (2020: 128ff.) in ihren Interviews ebenso fest, dass ein aufgrund des Mindestlohns gestiegener Kostendruck und sinkende Gewinnmargen den Wettbewerbsdruck erhöht hätten. Insbesondere kleine und mittelgroße Betriebe würden eine Verzerrung des Wettbewerbs zugunsten von Großbetrieben und Handelsketten beklagen. In der qualitativen Studie von Fuchs et al. (2025) über die Bedeutung des gesetzlichen Mindestlohns in der Kurier-, Express- und Paketdienstbranche werden überbetriebliche gewerkschaftliche Vertreterinnen und Vertreter mit der Beobachtung zitiert, dass sich die Konkurrenzfähigkeit tarifgebundener Unternehmen verbessert habe, da nicht tarifgebundene Unternehmen nun höhere Löhne zahlen müssten. Beschäftigte und Betriebsverantwortliche berichteten zudem insbesondere aus der ostdeutschen Untersuchungsregion von einer Marktbereinigung, bei denen insbesondere kleinere Betriebe mit geringen Löhnen aus dem Markt gedrängt worden seien. Dies deute darauf hin, dass der Mindestlohn eine Untergrenze im Wettbewerb auf dem Absatzmarkt setze, indem die Löhne nicht beliebig gesenkt werden könnten (ebd.: 61f.).

Abschlussberichte der Forschungsprojekte